• 09.06.2025
  • Artikel

Rascheln statt sägen: Alternative Papierrohstoffe sorgen für nachhaltige Verpackungen – und verfahrenstechnische Herausforderungen

Holz wird knapp, CO₂-Ziele werden strenger – deshalb rücken in der Papierindustrie alternative Papierrohstoffe wie Gras, Silphie oder sogar Laub in den Fokus. Doch die neuen Fasern stellen auch die Verfahrenstechnik vor Herausforderungen: Mahlung, Faseraufschluss, Wasserführung – alles muss angepasst werden. Der Beitrag zeigt, wie Europas Papierindustrie umdenkt – und warum Nürnberg im September 2025 zur Drehscheibe für diese Transformation wird.

Geschrieben von Armin Scheuermann

From plants to plant residues to trace-free material in the form of pellets for rigid and paper-coated applications
Pflanzen und Pflanzenreste werden immer häufiger zur Grundlage für die Papierproduktion.

Wenn eine Releaf-Tragetasche geknautscht wird, klingt es, als würde Herbstlaub unter den Schuhen zerbröseln. Genau das steckt auch drin: Gefallene Blätter aus Pariser Alleen wurden zu Zellstoff vermahlen – ohne Chlor und mit einem Restduft von Waldspaziergang. Releafs Pilotlinie bei Les Mureaux produziert bereits 100 Tonnen pro Monat und kommt mit 0,002 Litern Wasser und 0,066 Kilogramm CO₂ je Kilogramm Papier aus. Das sind rund 70 Prozent weniger als der Branchenschnitt. Denn obwohl Papier aufgrund seiner hohen Recyclingquote und der Verwendung nachwachsender Rohstoffe als umweltfreundlich gilt, wird die klassische Produktion aus Holz aufgrund des immensen Bedarfs zunehmend kritisch gesehen. Holzpreise, Energieknappheit und Klimaziele gehören zu den Herausforderungen der Hersteller. Grund genug, die Rohstoffbasis neu zu denken.

Einige Zahlen verdeutlichen die Dimension: Europa liefert gut ein Fünftel der weltweiten Papierproduktion, beschäftigt über 180.000 Menschen und erwirtschaftet einen Umsatz von rund 100 Mrd. Euro. Die Papierproduktion ist jedoch ein ressourcenintensiver Prozess: Pulping, Refining, Screening, Dewatering und Trocknen – jede Stufe der mechanischen Verfahrenstechnik entscheidet über den Energiebedarf, den Wasserverbrauch und den Chemikalieneinsatz. Zwar lässt sich auch in der klassischen Papierproduktion die Effizienz steigern, beispielsweise kann der Frischwasserbedarf durch geschlossene Kreisläufe auf 1 bis 2 l/kg Papier gesenkt werden. Wer jedoch alternative Fasern verwendet, kann noch einen weiteren Gang zurückschalten, denn Gras, Hanf oder Silphie benötigen weniger Lignin-Aufschluss und kürzere Mahlzeiten. Das reduziert nicht nur den Chemieeinsatz, sondern verlängert auch die Standzeit der Technik, beispielsweise von Press- und Blattsieben. Es gibt mindestens sieben gute Gründe für neue Fasern:

  1. Holz schonen: Kurzlebige Verpackungen dürfen keine alten Fichten fressen.
  2. Biodiversität sichern: Jeder nicht gefällte Baum bleibt Habitat.
  3. Weniger Input: Alternative Papiere sparen Wasser, Energie und Additive.
  4. CO₂-Bilanz: Gras und Bagasse wachsen im Jahrestakt und binden CO₂ schneller, als es freigesetzt wird.
  5. Regionale Wertschöpfung: Silphie wächst vor der Haustür, Gras am Böschungsrand und Laub fällt überall an.
  6. Chemikalien reduzieren: Grasfasern kommen fast ohne Bleichstufen aus.
  7. Kreislaufwirtschaft: Reststoffe aus der Landwirtschaft oder dem städtischen Grünschnitt schließen Stoffkreise.

Wer liefert schon heute?

Die gute Nachricht zuerst: Die Entwicklung alternativer Papierrohstoffe ist längst keine Zukunftsmusik mehr – sie ist bereits in vollem Gange. Und sie läuft in Europa auf Hochtouren. Ganz vorne mit dabei ist Releaf, ein junges Unternehmen mit Wurzeln in der Ukraine, das inzwischen in Estland und Frankreich aktiv ist. Releaf verarbeitet herabgefallene Blätter aus städtischen Ökosystemen zu stabilem, atmungsaktivem Papier für Tüten, Kartonagen und Notizbücher. Der Clou: Kein einziger Baum muss dafür fallen. Das Laub wird gesammelt, granuliert und zu Faserstoff aufgeschlossen. Das Resultat ist ein industriell kompostierbares Papier, das sich innerhalb von 55 Tagen vollständig abbaut.

Auch aus Deutschland kommt Bewegung: OutNature, ein Ableger der PreZero-Gruppe, setzt auf die durchwachsene Silphie, eine regionale Energiepflanze mit hohem Zellulosegehalt. Die Silphie-Fasern lassen sich in bestehenden Papierfabriken verarbeiten und ergeben ein vollständig recyclingfähiges Papier, das sich nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch gut in den Stoffkreislauf einfügt.

NextGenPaper geht einen anderen Weg: Das Start-up produziert Papier aus Bagasse, den faserigen Überresten der Zuckerrohrverarbeitung. In Kombination mit einer wasserbasierten Barrierebeschichtung entsteht ein mehrschichtiges Papier, das ohne Kunststoff auskommt und dennoch fettdicht, wasserabweisend und recyclingfähig bleibt – ideal für Verpackungen mit direktem Lebensmittelkontakt.

Noch einen Schritt weiter geht die Kooperation zwischen Traceless Materials und dem Verpackungsriesen Mondi. Hier entstehen Barrierepapiere mit einer Beschichtung aus pflanzlichen Reststoffen. Sie sind nicht nur funktional, sondern auch vollständig kompostierbar – ganz ohne fossile Rohstoffe oder Mikroplastik.

Beschichteter Karton mit postindustriellen Fasern von Kotkamills
ALASKA KRAFT von Kotkamills ist ein vollbeschichteter Karton aus Frischfasern mit 10 Prozent postindustriellen Fasern in der obersten Schicht und einer Kraftrückseite.

Finnland als einer der größten Holzlieferanten darf natürlich nicht fehlen. Bei Kotkamills ersetzt man herkömmliche Polyethylen-Beschichtungen durch eine online applizierte Wasser-Dispersion. Das Produkt ISLA ist ein papierbasierter, wasserabweisender Karton, der in die normale Altpapierverwertung eingeht und somit eine saubere Lösung für Coffee-to-go-Becher, Take-away-Schalen und Ähnliches bietet.

Und schließlich: Landpack. Das Münchner Unternehmen nutzt Hanf und Stroh als Rohstoffbasis für thermoisolierende Verpackungen. Die Landbox ist eine kompostierbare Alternative zu Styropor: Sie ist leicht, stoßdämpfend, regional produziert und ökologisch durchdacht bis zur letzten Faser.

Ob Stadtlaub, Zuckerrohr, Hanf oder Silphie – die Bandbreite alternativer Fasern war noch nie so groß wie heute. Die Herausforderung liegt nicht mehr in der Machbarkeit, sondern in der präzisen Anpassung an bestehende Prozesse. Denn jede Faser bringt ihre Eigenheiten mit: Länge, Festigkeit, Lignin-Gehalt, Helligkeit. Wer daraus stabile, recycelbare oder gar kompostierbare Verpackungen herstellen will, benötigt verfahrenstechnisches Fingerspitzengefühl und Erfahrung mit variablen Rohstofflinien.

Hot Spot Nürnberg: September 2025

Wo trifft man all diese Impulsgeber und Techniker? Richtig, in Nürnberg. Vom 23. bis 25. September 2025 wird die Messemetropole erneut zur Innovationsdrehscheibe für alle, die in der mechanischen Verfahrenstechnik tätig sind. Auf der POWTECH TECHNOPHARM geht es um Mahlen, Sichten und Dosieren, also genau die Prozesse, die bei der Aufbereitung alternativer Faserstoffe eine entscheidende Rolle spielen. Wie verarbeiten wir schwankende Materialqualitäten? Wie sichern wir gleichbleibende Schliffparameter? Hier werden Lösungen diskutiert, ausprobiert und live demonstriert.

Messebesucher an einer Zellenradschleuse
Auf der POWTECH TECHNOPHARM geht es auch um Prozesse, die bei der Aufbereitung alternativer Faserstoffe eine wichtige Rolle spielen.

Wer den Blick über die Prozessgrenzen hinauswagen möchte, spaziert ein paar Hallen weiter zur FACHPACK, denn dort zeigt die Verpackungsindustrie, was sich aus alternativen Rohstoffen alles machen lässt. Die FACHPACK ist auch 2025 wieder die Bühne und der Branchentreff für alle, die Nachhaltigkeit gestalten wollen – vom Rohstoff bis zur fertigen Verpackung.

Praxisimpulse für Verfahrenstechniker

Die Umstellung auf neue Fasern ist kein Plug-and-Play. Wer Laub oder Gras in den Prozess schickt, muss die Anlage und die Grenzen der Physik kennen. Der Faseraufschluss etwa wird zur Gratwanderung, da alternative Rohstoffe stärker in Feuchte, Lignin-Gehalt und Feinanteil schwanken. Hier helfen Vibrationssiebe mit adaptiver Deckfrequenz, die sich auf das Material einstellen und Verstopfungen zuverlässig verhindern.

Bei der Mahlung lohnt es sich, die Strategie anzupassen. Kürzere Mahlgänge bei gleichzeitig erhöhter Stoffdichte schonen die Faserlänge, was besonders bei empfindlichen Materialien wie Hanf von Vorteil ist. Das ist nicht nur gut für die Festigkeit des Endprodukts, sondern spart auch Energie. Apropos Energie: Viele alternative Fasern wie Bagasse oder Gras lassen sich bei deutlich niedrigeren Temperaturen aufschließen. Der Effekt: Es wird weniger Dampf und Energie verbraucht – vor allem, wenn die Anlage Wärme aus den Abgasen zurückgewinnt. Die Investition rechnet sich meist in unter drei Jahren.

Auch die Chemiedosierung muss neu gedacht werden. Gras und Silphie benötigen weniger Bleichmittel, was die Belastung des Prozesswassers senkt, aber eine präzise Weißgradsteuerung, etwa per Inline-Sensorik, verlangt. Schließlich ist da noch das Thema Wasser: Silphie enthält weniger Harze als Nadelholz, was zu niedrigeren CSB-Werten im Abwasser führt und somit kleinere biologische Reinigungsstufen erforderlich macht. Wer hier sauber arbeitet, spart nicht nur Ressourcen, sondern auch Betriebskosten.

Fazit: Die europäische Papierindustrie steht an der Schwelle vom Holz-Monolithen zur Multi-Faser-Fabrik. Verfahrenstechniker können jetzt zeigen, was in moderner Technik steckt: variable Aufschluss-Routen, energieoptimierte Trockenpartien und smarte Prozessanalytik. Gleichzeitig bekommen Verpackungsentwickler ein Portfolio an Story-Fasern – vom Stadtlaub bis zur Energiepflanze –, mit dem sie Marken nachhaltiger aufladen können. Wer den Rohstoffmix beherrscht, sichert sich nicht nur regulatorische Punkte im Green Deal, sondern auch handfeste Kostenvorteile. Spätestens wenn die POWTECH TECHNOPHARM und die FACHPACK ihre Tore geschlossen haben, raschelt der Herbst – und vielleicht ist es künftig das Geräusch Ihrer nächsten Verpackung.

Autor

Armin Scheuermann
Armin Scheuermann
Chemical engineer and freelance specialised journalist