• 05.12.2025
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Draghi-Report und die Folgen: Wo Europas Industriepolitik jetzt wirkt

Investoren haben es schwer in Europa: Genehmigungen dauern Jahre, der Strom ist doppelt so teuer wie in den USA, und die Konkurrenz aus China drückt mit Dumpingpreisen auf den Markt. Willkommen in der Realität vieler europäischer Industrieunternehmen – ein Jahr nach dem berühmten "Elektroschock", den Mario Draghi der EU verpasst hat. Doch hat Europa seitdem wirklich verstanden – und vor allem gehandelt?

Geschrieben von Armin Scheuermann

Stahlherstellung bei Thyssenkrupp
Dekarbonisierung, Digitalisierung, strategische Resilienz. Ohne koordinierte Investitionsoffensive droht der EU ein „langsames Sterben“ der industriellen Basis – so der Draghi-Report.

Die kurze Antwort: Ja, aber langsam. Und nicht überall gleich überzeugend. Immerhin: Auf EU-Ebene wie in Deutschland und mehreren Mitgliedsstaaten ist seitdem eine neue Dynamik in der Industriepolitik erkennbar. Für Unternehmen in der Prozessindustrie, für Energieversorger und für Hersteller verfahrenstechnischer Anlagen zeigt sich: Der Weckruf hat Wirkung entfaltet – wenn auch die Umsetzung noch nicht mit dem Anspruch Schritt hält.

Als Draghi im September 2024 seinen 400 Seiten starken Bericht an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übergab, sprach er von einer existenziellen Herausforderung für Europa. 800 Milliarden Euro jährlich müssten mobilisiert werden, um mit den USA und China Schritt zu halten – in Dekarbonisierung, Digitalisierung, strategische Resilienz. Ohne koordinierte Investitionsoffensive drohe der EU ein „langsames Sterben“ der industriellen Basis.

Mario Draghi, Autor des richtungsweisenden Reports, mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Mario Draghi, Autor des richtungsweisenden Reports, mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Ein Jahr später zeigt der erste Draghi-Implementation-Index: Nur 11,2 Prozent der 383 Empfehlungen sind vollständig umgesetzt, weitere 20 Prozent teilweise. In der Energiepolitik etwa stagniert vieles, bei Chemie und Digitalisierung ist die Umsetzung mühsam – während der Verkehrs- und Rohstoffsektor vergleichsweise weit vorangekommen ist. Doch das Bild ist nicht nur ernüchternd. Es gibt klare Fortschritte – vor allem dort, wo wirtschaftlicher und politischer Druck zusammenkommen.

EU-Kompass: Große Vision, zähe Umsetzung

Die neue Kommission hat bereits zum Amtsantritt im Januar 2025 den sogenannten Wettbewerbskompass vorgelegt – ein strategischer Fahrplan mit 33 konkreten Projekten, davon 14 Gesetzesinitiativen. Das Volumen: über eine Billion Euro, rund 90 Prozent davon direkt inspiriert durch Draghi. Die Kernbotschaft: Europas Industrie soll dekarbonisieren, digitalisieren und widerstandsfähiger werden – ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Für die Chemie-, Pharma- und Energiebranche sind die Auswirkungen teils spürbar, teils noch Ankündigung.

Im Juli 2025 veröffentlichte die EU-Kommission erstmals einen eigenen Aktionsplan für die chemische Industrie – eine direkte Reaktion auf die alarmierenden Signale aus der Branche. Die Energiepreise, regulatorischen Kosten und Innovationsbarrieren hatten spätestens seit 2022 eine deutliche Abwanderungstendenz ausgelöst.

Der Plan setzt auf vier Hebel: Erstens, Versorgungssicherheit. Eine neue Critical Chemicals Alliance soll dafür sorgen, dass Grundstoffe wie Ammoniak oder Ethylen künftig nicht mehr zu Engpässen führen. Zweitens, Entbürokratisierung: Mit dem sogenannten „6. Omnibus-Paket“ wurden Kennzeichnungspflichten und Registrierungsvorschriften entschlackt – Einsparungen für die Branche: rund 363 Millionen Euro jährlich. Drittens, steuerliche Anreize für grüne Chemikalien – ein Hebel, den auch der BDI in seiner 2024 veröffentlichten Studie ausdrücklich gefordert hatte. Und viertens, Investitionsförderung für neue Verfahren wie Wasserstoff-basierte Synthese oder CO₂-Rückgewinnung.

Diese industriepolitische Wende zeigt Wirkung: Erste Pilotanlagen – etwa zur Elektrifizierung organischer Synthesen – sind laut EU-Kommission bereits in Genehmigung. Durch schnellere Genehmigungsprozesse, so die Erwartung, lassen sich Projekte um mehrere Monate beschleunigen.

Pharma: Von der Versorgungskrise zur Innovationsoffensive

Während sich die Reform der europäischen Arzneimittelgesetzgebung bereits seit 2023 abzeichnete, erhielt sie durch Draghi zusätzlich politischen Schub. Die EU strebt nun eine bessere Balance zwischen regulatorischer Kontrolle, Innovationsförderung und Versorgungssicherheit an. Konkret heißt das: Schnellere Verfahren für Medikamentenzulassungen, Investitionen in Biotechnologie, mRNA-Plattformen und neue Fertigungskapazitäten.

Flankierend hat Deutschland mit seiner Nationalen Pharmastrategie eigene Maßnahmen eingeleitet – von digitalen Gesundheitsdateninfrastrukturen bis hin zur steuerlichen F&E-Förderung. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller vfa lobte den Schritt als dringend notwendig für den Standort Deutschland. Produzenten pharmazeutischer Anlagentechnik profitieren somit von einer erhöhten Investitionsbereitschaft ihrer Kunden, erleichterten Rahmenbedingungen und einer allgemein gestärkten Nachfrage nach innovativen, resilienten und digitalen Produktionssystemen, welche explizit durch die Nationale Pharmastrategie begünstigt werden.

Energie: endlich Entlastung – aber nicht für alle

Kein Thema lastete schwerer auf den Schultern der Prozessindustrien als der Energiepreis. Draghi nannte ihn explizit eine „Wachstumsbremse ersten Ranges“. Die EU-Kommission reagierte mit dem Affordable Energy Action Plan (Februar 2025), der vier Punkte adressiert: niedrigere Stromnebenkosten, Förderung erneuerbarer Stromverträge, gemeinsame Gaseinkäufe und mehr Energieeffizienz. Auch die Idee, Netzgebühren europaweit zu harmonisieren, liegt nun auf dem Tisch – wenngleich noch ohne Umsetzung.

Deutschland geht einen Schritt weiter: Im November 2025 beschloss die Bundesregierung einen befristeten Industriestrompreis – ab 2026 sollen stromintensive Betriebe Strom zu rund 5 ct/kWh beziehen können. Finanziert wird das Programm mit mehr als 3 Mrd. Euro. Das Ziel: Deindustrialisierung stoppen, Wettbewerbsfähigkeit erhalten.

Digitalisierung, Innovation, Kapital: mehr Wille, weniger Wirkung

Der Draghi-Bericht diagnostizierte nicht nur eine Investitionslücke, sondern auch eine Kapitalverteilungsstörung: Europa spart, aber investiert zu wenig. Besonders gravierend im Technologiebereich. Die Reaktion: Programme wie „TechEU“ (70 Mrd. Euro), die Start-up-Initiative „Choose Europe“ und eine neue KI-Strategie sollen die Lücke schließen.

Aber auch hier gilt: Viel ist angekündigt, wenig ist umgesetzt. Gerade im Bereich KI, Digital Twin und vernetzte Systeme warten Maschinenbauer noch auf konkreten Zugang zu neuen Fördermitteln. Immerhin: Im Rahmen des „Net-Zero Industry Act“ wurden erstmals auch Simulationssoftware und verfahrenstechnische Digitalwerkzeuge förderfähig gemacht.

Fazit: Ein Weckruf mit Nachhall – aber noch ohne Durchbruch

Ein Jahr nach Veröffentlichung des Draghi-Reports zeigt sich: Die europäischen Institutionen und viele nationale Regierungen haben verstanden. Die Industriepolitik wird ernster genommen, gezielter gesteuert, besser finanziert. Für viele Unternehmen in der Chemie, Pharma und Energiewirtschaft sind erste Entlastungen spürbar. Förderstrukturen entstehen, die Kapitalverfügbarkeit verbessert sich langsam, und regulatorische Verfahren werden schrittweise effizienter.

Aber: Der Systemwechsel ist noch nicht vollzogen. Viele Maßnahmen bleiben Flickenteppich, nationale Alleingänge hemmen den Binnenmarkt, und politische Umsetzung tröpfelt oft dort, wo schnelles Handeln gefragt wäre.

EU-Flaggen vor einem Gebäude der EU-Kommission
Ein Jahr nach Veröffentlichung des Draghi-Reports zeigt sich: Die europäischen Institutionen und viele nationale Regierungen haben verstanden.

Autor

Armin Scheuermann
Armin Scheuermann
Chemical engineer and freelance specialised journalist