Ein Jahr später zeigt der erste Draghi-Implementation-Index: Nur 11,2 Prozent der 383 Empfehlungen sind vollständig umgesetzt, weitere 20 Prozent teilweise. In der Energiepolitik etwa stagniert vieles, bei Chemie und Digitalisierung ist die Umsetzung mühsam – während der Verkehrs- und Rohstoffsektor vergleichsweise weit vorangekommen ist. Doch das Bild ist nicht nur ernüchternd. Es gibt klare Fortschritte – vor allem dort, wo wirtschaftlicher und politischer Druck zusammenkommen.
EU-Kompass: Große Vision, zähe Umsetzung
Die neue Kommission hat bereits zum Amtsantritt im Januar 2025 den sogenannten Wettbewerbskompass vorgelegt – ein strategischer Fahrplan mit 33 konkreten Projekten, davon 14 Gesetzesinitiativen. Das Volumen: über eine Billion Euro, rund 90 Prozent davon direkt inspiriert durch Draghi. Die Kernbotschaft: Europas Industrie soll dekarbonisieren, digitalisieren und widerstandsfähiger werden – ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Für die Chemie-, Pharma- und Energiebranche sind die Auswirkungen teils spürbar, teils noch Ankündigung.
Im Juli 2025 veröffentlichte die EU-Kommission erstmals einen eigenen Aktionsplan für die chemische Industrie – eine direkte Reaktion auf die alarmierenden Signale aus der Branche. Die Energiepreise, regulatorischen Kosten und Innovationsbarrieren hatten spätestens seit 2022 eine deutliche Abwanderungstendenz ausgelöst.
Der Plan setzt auf vier Hebel: Erstens, Versorgungssicherheit. Eine neue Critical Chemicals Alliance soll dafür sorgen, dass Grundstoffe wie Ammoniak oder Ethylen künftig nicht mehr zu Engpässen führen. Zweitens, Entbürokratisierung: Mit dem sogenannten „6. Omnibus-Paket“ wurden Kennzeichnungspflichten und Registrierungsvorschriften entschlackt – Einsparungen für die Branche: rund 363 Millionen Euro jährlich. Drittens, steuerliche Anreize für grüne Chemikalien – ein Hebel, den auch der BDI in seiner 2024 veröffentlichten Studie ausdrücklich gefordert hatte. Und viertens, Investitionsförderung für neue Verfahren wie Wasserstoff-basierte Synthese oder CO₂-Rückgewinnung.
Diese industriepolitische Wende zeigt Wirkung: Erste Pilotanlagen – etwa zur Elektrifizierung organischer Synthesen – sind laut EU-Kommission bereits in Genehmigung. Durch schnellere Genehmigungsprozesse, so die Erwartung, lassen sich Projekte um mehrere Monate beschleunigen.