• 09.06.2025
  • Artikel

Zwischen Wellen und Wendepunkt: Warum jetzt über die Zukunft der Prozessindustrie entschieden wird

Läuft den Ingenieuren die Zukunft davon? Aktuelle Studien wie die KI-Studie des VDI werfen Fragen auf. Polykrisen und technischer Fortschritt verunsichern uns und führen zu geopolitischen Verwerfungen. Es ist Zeit für den Versuch einer Einordnung – und ein Plädoyer für konsequente Digitalisierung.

Geschrieben von Armin Scheuermann

Surfer on a wave consisting of the trends biotech, AI and sustainability
Für die Industrie gilt dasselbe wie für Surfer: Entweder man reitet die Welle oder man wird von ihr überrollt.

Ein Navigationssystem ist nur so gut wie das Kartenmaterial, auf dem es basiert. Solange sich die Straßenführung nicht ändert, finden wir zuverlässig ans Ziel. Doch was passiert, wenn sich nicht nur der Weg, sondern das gesamte Koordinatensystem verschiebt? Wenn Norden plötzlich Süden wird?

In der Geophysik gibt es dafür ein reales Vorbild: Etwa alle 250.000 Jahre kehrt sich das Erdmagnetfeld um. Dann zeigt der Kompass nicht mehr nach Norden, sondern nach Süden. Ähnliches geschieht gerade für unsere technologische Orientierung. Geschäftsmodelle, die jahrzehntelang Richtung und Sicherheit gegeben haben, etwa auf Basis fossiler Rohstoffe, klassischer Basischemie oder analoger Wertschöpfung, verlieren rasant ihre Gültigkeit. Wer weiterhin nach den alten Koordinaten navigiert, wird sein Ziel nicht erreichen. Oder im Kreis fahren.

Bereits im 20. Jahrhundert haben Ökonom:innen wie Nikolai Kondratieff beschrieben, dass sich technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt in langen Innovationszyklen vollzieht. Jede dieser „langen Wellen“, die etwa 40 bis 60 Jahre andauern, wird durch Schlüsseltechnologien angestoßen und prägt eine ganze Epoche: von der Dampfmaschine über die Elektrifizierung und die Petrochemie bis hin zum Computer und dem Internet.

Kondratieff-Wellen über einer Zeitachse und der Darstellung von Renditen des S&P-Index
Kondratieff-Wellen und rollierende 10-Jahresrenditen des S&P 500 nach einer Darstellung einer Allianz-Studie von 2010.

Seit über einem Jahrzehnt spekulieren Zukunftsforscher:innen über das Entstehen einer sechsten Welle. Heute verdichten sich die Anzeichen, dass diese begonnen hat. Ihre Treiber sind Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Nachhaltigkeit. Was diese Bereiche eint, ist der Bedarf an enormer Rechenleistung, datengetriebener Entscheidungslogik und interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Alte Modelle sind am Ende, neue entstehen

Der Wandel wird besonders deutlich an der digitalen Avantgarde selbst: Google, Sinnbild der fünften Welle, steht mit seinem Kerngeschäftsmodell unter Druck. Generative KI wie ChatGPT oder Claude verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir mit Maschinen interagieren. Sie stellt auch das anzeigenbasierte Suchmaschinenmodell fundamental infrage. Immer mehr Nutzer:innen fragen direkt ein Sprachmodell und klicken keine Links mehr.

Das Neue wächst, das Alte weicht. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci hat diesen Zustand vor rund 100 Jahren wie folgt beschrieben: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. In diesem Interregnum entstehen viele morbide Symptome.“ Oder, um es noch plakativer zu sagen: „Es ist die Zeit der Monster“ – und an Monstern herrscht in der Geopolitik derzeit wahrlich kein Mangel.

Monster in einem Wellental
Die Übergangszeit (Transformationsphase) in einer Zeitenwende bezeichnete Antonio Gramsci als „Zeit der Monster“.

Dieser „Gramsci-Gap“ lässt sich auch in der Industrie beobachten: Zwischen dem Ende alter Geschäftsmodelle und dem stabilen Beginn neuer Technologien entsteht ein produktives, aber riskantes Vakuum. Orientierungslosigkeit. Zögerlichkeit. Disruption.

KI allein ist nicht die Revolution

Der Hype um KI verstellt dabei leicht den Blick auf das große Ganze. KI ist nicht der alleinige Treiber der nächsten Welle, sondern nur ein Teil davon. Die wahre Revolution liegt in der Kombination von Technologien.

  • Biobasierte Chemie ersetzt fossile Moleküle durch nachwachsende.
  • Biopharma verändert die Medikamentenentwicklung grundlegend.
  • Nachhaltigkeitsziele erfordern neue Bewertungsmaßstäbe in Prozessen.
  • KI wiederum schafft neue Steuerungsmöglichkeiten für hochkomplexe Systeme.

All diese Megatrends basieren auf einem Rohstoff: Daten. Und diese müssen aus den Prozessen gewonnen werden. Hier beginnt die Verantwortung von uns Ingenieur:innen.

Die Technik liefert Daten und schafft Wert

Die Grundlage für datengestützte Geschäftsmodelle, Smart Services und adaptive Produktionssysteme entsteht dort, wo Sensorik, Steuerung, Prozessleittechnik und IT miteinander verschmelzen. Wer eine durchgängige Datenkette vom Feldgerät bis zur Cloud aufbaut, schafft die Basis für den Wandel.

Technologien wie Ethernet-APL bieten bereits heute die physikalische Grundlage für eine Hochgeschwindigkeits-Datenkommunikation, selbst aus explosionsgeschützten Zonen. Das einst als Nische geltende Thema wird zum Standard.

Doch die Infrastruktur allein reicht nicht. Der Wandel verlangt die Anwendung neuer Datenmodelle wie beispielsweise DEXPI sowie offene Plattformen, die Interoperabilität zulassen und den konsequenten Einsatz digitaler Zwillinge, die sich über den gesamten Anlagenlebenszyklus erstrecken – von der Planung über den Betrieb bis zum Rückbau.

Diskrepanz zwischen Notwendigkeit und Haltung

Eine aktuelle VDI-Studie aus dem Mai 2025 zeigt jedoch, dass weniger als 40 Prozent der befragten Ingenieur:innen in Deutschland davon ausgehen, dass sich ihr Arbeitsumfeld durch KI unmittelbar grundlegend verändern wird. Das steht in krassem Gegensatz zu einer Gartner-Prognose, der zufolge bis spätestens 2027 80 % der technischen Belegschaft gezwungen sein werden, ihre KI-Kompetenzen auszubauen.

Diese kognitive Dissonanz zwischen Anforderung und Erwartung ist ein Risiko für den Standort. Während die USA mit dem Inflation Reduction Act massenhaft Investitionen in digitale und grüne Technologien lenken und China Plattform und Produktion verbindet, dominiert in Europa das Zögern. Die Tatsache, dass in China ab Herbst 2025 KI-Kurse für Schüler der Primarstufe verpflichtend sein werden und die Zahl der Ingenieurstudierenden in China etwa dreimal so hoch ist wie in Europa, lässt erahnen, wie es um die künftige Wettbewerbsfähigkeit europäischer und deutscher Ingenieurskunst bestellt sein könnte.

Fazit: Jetzt handeln – oder von der Welle überrollt werden!

Die sechste Kondratieff-Welle rollt. Und sie ist kein Trend, den man aussitzen kann. Europa bringt viel mit: exzellente Ausbildung, ein hervorragendes Ökosystem aus Industrie, Fachkräften und Forschern, eine der größten Volkswirtschaften der Welt und ethische Standards. Was jetzt zählt: Mut zur Umsetzung, Offenheit für neue Denkweisen und die Bereitschaft, die Digitalisierung als industrielle Kernkompetenz zu verstehen.

Autor

Armin Scheuermann
Armin Scheuermann
Chemical engineer and freelance specialised journalist